Die Illusion der Mehrheit in der Demokratie

Die Illusion der Mehrheit in der Demokratie

In vielen Demokratien ist es die Regel, dass nur Minderheiten der Bevölkerung die jeweiligen Parteien als Wähler hinter sich bringen können. Dies ist ein normaler Bestandteil des politischen Systems. Dennoch sollte es nicht als normal angesehen werden, dass etwa ein Fünftel der Wählerstimmen von vornherein einfach ignoriert wird.

Die Wahl ist vorbei, die Ergebnisse sind bis ins kleinste Detail bekannt. Die Statistiker berichten, wie die verschiedenen Parteien abgeschnitten haben; einige erlitten Rückschläge, so stark, dass es angebracht scheint, über deren Resultate den Mantel des Schweigens zu breiten. Die Parteien, die es geschafft haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden, feiern ihren Erfolg – ob souverän oder nur knapp. Ihre Mehrheiten können sie stolz präsentieren, während andere, die leider nicht bestehen konnten, sich zu einer bescheideneren Haltung gezwungen sehen. Die Zahlen geben Auskunft darüber, wer wo steht – ob an der Spitze oder ganz unten in der politischen Landschaft.

Doch was stellen die Prozentangaben wirklich dar? Wie viele Wähler stecken hinter diesen Zahlen? Ein genauerer Blick lohnt sich. Zunächst einmal: Die hohe Wahlbeteiligung von 82,5 Prozent ist trügerisch. Von den rund 84 Millionen Bürgern in Deutschland haben lediglich 60,4 Millionen das Recht zu wählen. Der Grund dafür sind die etwa 14,3 Millionen Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren und rund 14,1 Millionen Ausländer, die nicht wahlberechtigt sind.

Ein weiterer Aspekt sind die Auslandsdeutschen, bei denen über 200.000 im Wählerregister verzeichnet sind. Wegen der Schwierigkeiten bei der Zustellung der Briefwahlunterlagen haben es einige von ihnen dennoch nicht in die Wählerlisten geschafft, was die tatsächliche Wahlberechtigung nur weiter kompliziert. Bei all diesen Überlegungen spielen diese Auslandsdeutschen allerdings keine Rolle, da wir uns ausschließlich auf das Bundesgebiet konzentrieren.

Von den 60,4 Millionen Wahlberechtigten haben schließlich 82,5 Prozent ihre Stimme abgegeben, was rund 49,9 Millionen Stimmen entspricht. Die CDU und CSU haben dabei 28,6 Prozent der Stimmen erhalten, was in etwa 14,2 Millionen Wählern entspricht oder etwas mehr als ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Würden wir die Wahlergebnisse der Parteien einzeln betrachten, kämen wir immer wieder zu demselben Schluss: In Deutschland regieren wahrscheinlich Minderheiten.

Dies ist in keiner Weise ein Vorwurf, auch nicht ein Grund, Deutschland von anderen Demokratien zu unterscheiden. In der Regel sind es Minderheiten, die den politischen Kurs bestimmen. Die Wahlergebnisse müssen also relativ betrachtet werden. So stehen beispielsweise die 14,2 Millionen Stimmen für den Wahlsieger in Relation zu den 10,3 Millionen, die sich für die AfD ausgesprochen haben. Im Vergleich zur SPD, die 8,15 Millionen Stimmen erreichte, ergibt sich ein Vorsprung von fast zwei Millionen. Dennoch plant Friedrich Merz, mit der abgewählten SPD eine neue Regierung zu bilden, während der zweitstärksten Kraft, der AfD, das politische Mitspracherecht verwehrt bleibt. Zehn Millionen Wähler werden quasi aus der demokratischen Prozess ausgeschlossen.

In Anbetracht dieser nüchternen Zahlen drängt sich die Frage auf: Warum werden überhaupt Wahlen durchgeführt? Solche groß angelegten Veranstaltungen kosteten Millionen, während es dennoch festzustehen scheint, dass einer etablierten politischen Kraft aufgrund ihrer Wähleranzahl keine Teilhabe am politischen Geschehen zusteht.

Die sogenannte „Brandmauer“ gegen die AfD wird nicht ewig aufrechterhalten werden können. Sollte die AfD bei der nächsten Bundestagswahl weiteres Wachstum zeigen, könnte sich die Brandmauer so weit zurückziehen, dass unklar wird, wer eigentlich noch zur ausschließenden Gruppe zählt. Diese Situation könnte an die Berliner Mauer erinnern – auch dort fanden sich schließlich nur noch die, die sie errichtet hatten.

Es ist zu befürchten, bevor die Erbauer dieses neuen, antidemokratischen Walls sich vor den Folgen ihrer Entscheidungen verantworten müssen, wird Friedrich Merz vor der Herausforderung stehen, seine demokratische Grundhaltung miteinander zu vereinen, während er gleichzeitig eine Partei, die zehn Millionen Wähler hinter sich hat, aus dem politischen Prozess ausschließt.

Wenn Merz demnächst seinen Amtseid als Kanzler ablegen wird, schwört er, seine Kraft dem Wohle aller Deutschen zu widmen und Schaden von ihnen abzuwenden. Hierbei unterwirft er sich nicht nur dem Willen seiner Wähler, sondern dem aller Bürger. Zehn von 49,9 Millionen Wählern sind eine Stimme, die großes Gewicht hat. Auch wenn CDU/CSU mit der SPD eine knappe Mehrheit erlangt haben, steht die Verantwortung gegenüber der AfD im Raum. Diese wird von der neuen Regierung von Anfang an ignoriert – eine Haltung, die einen stabilen Kurs erheblich gefährden könnte.

Dr. Thomas Rietzschel, Jahrgang 1951, ist ein ehemaliger Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und arbeitet heute als freier Autor. Er hat in der Vergangenheit mehrfach mit seinen scharfen Analysen und kritischen Fragen für Aufsehen gesorgt.

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