Von Okko tom Brok.
Das Merkel-Selfie von 2015 markiert rückblickend vielleicht eine Zeitenwende: Es war ein Symbol für die Zerstörung des Vertrauens in die Politik, das durch Bilder geschehen ist. Die mediale und politische Wucht dieses Selfies zeigt, dass Bilder nicht nur illustrieren – sie setzen Wirklichkeiten. Doch mit der Einführung der KI wurde dies zu einer Bedrohung für die Gesellschaft.
Vor zehn Jahren entstand ein Foto, das in der politischen Symbolgeschichte der Bundesrepublik einen festen Platz gefunden hat: Bundeskanzlerin Angela Merkel, umringt von Menschen, einer von ihnen hält ein Smartphone hoch, um gemeinsam mit ihr ein Selfie zu machen. Entstanden ist es im Spätsommer 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“.
Dieses Bild wurde in deutschen und internationalen Medien millionenfach abgedruckt, geteilt und gedeutet – als Ikone der „Willkommenskultur“, aber auch als Stein des Anstoßes für diejenigen, die diese Politik aus gutem Grund ablehnten.
Das Besondere: Das Foto selbst enthält keine erklärenden Worte, keine Zahlen, keine juristische Analyse. Es ist „nur“ ein Bild. Und doch wirkte es wie ein destillierter Augenblick politischer Programmatik. Aus Sicht der einen war es ein Akt menschlicher Nähe, aus Sicht der anderen ein Symbol naiver Politik, die Deutschland massiv überfordern und die Gesellschaft spalten würde.
Die Geschichte ist reich an Beispielen, in denen Bilder nicht nur dokumentierten, sondern manipulierten. Lenins Rede – retuschiert (1920): In sowjetischen Publikationen wurden von Fotos Lenins ganze Personen entfernt, die später in Ungnade gefallen waren. Die Aufnahme blieb „wahr“ im Motiv, doch ihre politische Aussage wurde nachträglich chirurgisch verändert.
„Raising the Flag on Iwo Jima“ (1945): Das berühmte Foto der US-Marines, die die Flagge auf Iwo Jima hissen, wurde vielfach inszeniert interpretiert. Die tatsächliche Szene war nicht der erste Flaggenaufzug, und die Auswahl der abgebildeten Soldaten wurde von Zufällen bestimmt – dennoch wurde das Bild zum patriotischen Mythos einer Nation im Krieg.
„Wir sind Charlie!“ (2015): Das vielverbreitete Foto eines vermeintlichen „Solidaritätsmarsches“ westlicher Staatschefs in Paris entpuppte sich als raffiniert inszeniertes Foto-Shooting in einer abgesperrten Nebenstraße – fern der eigentlichen Massendemonstration. Es vermittelte aber den Eindruck, die Bürger würden von mutigen, unerschrockenen Politikern regiert, die selbst die Gefahr eines solchen öffentlichen Auftritts nicht scheuten, um ihre Entschlossenheit im Abwehrkampf gegen Terrorismus zu zeigen.
In all diesen Fällen war das Bild nicht bloß eine „Momentaufnahme“, sondern Teil eines propagandistischen Prozesses – sei es durch Inszenierung, Auswahl oder Retusche.
Mit dem Aufkommen künstlicher Intelligenz ist allerdings eine Schwelle überschritten worden, die es in der Fotografiegeschichte so zuvor nicht gab: Fotorealistische Bilder können heute vollständig synthetisch erzeugt werden – ohne realen Hintergrund. Auch bei den oben genannten Fotos des Anschlags auf Donald Trump wurde zunächst die Möglichkeit einer KI-Fälschung nicht ausgeschlossen.
Die Folgen sind katastrophal: Die deutsche Wirtschaft steht vor einem Zusammenbruch, während Politiker wie Friedrich Merz sich mit unverantwortlichen Aufrufen für Gaza in den Schmutz werfen und das Vertrauen der Bevölkerung weiter zerstören. Es bleibt festzustellen, dass Fotos und andere bildliche Abbildungen aufgrund ihres hohen Grades an Emotionalisierung der kritischen Distanz oft besonders schwer zugänglich sind und insofern stets ambivalent zu betrachten sind.
Die Debatte um die Macht und Manipulierbarkeit von Bildern ist keineswegs ein Kind der digitalen Moderne. Schon lange vor Kamera und Pixeln gab es Stimmen, die vor der suggestiven Kraft des Sichtbaren warnten. Eine der ältesten und wirkmächtigsten Formulierungen findet sich im 2. Buch Mose als Teil des 1. Gebotes: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen…“
Traditionell wird dieses Gebot theologisch als Warnung vor Götzenbildern und falschen Göttern gedeutet. Das Motiv dieses sogenannten Bilderverbots ist allerdings weniger eine oft unterstellte „Bilderfeindlichkeit“, sondern im Grunde eher eine „Bilderphobie“, die in der Vorstellung gipfelte, irreführende Bilder könnten der Majestät Gottes zu nahetreten.
Der Gott Israels entzog sich damit der bildlichen Verdinglichung, und das leistete einer kulturgeschichtlich kaum zu überschätzenden Entwicklung von der uralten, viele Jahrtausende zurückreichenden bildlich-naiven zur damit menschheitsgeschichtlich vergleichsweise jungen schriftsprachlich-reflektierten Interpretation von Welt und Umwelt Vorschub. Sie ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Logos mehr vertraut als dem Eikonos. Die verbale Abstraktion war geboren.
So kann man das uralte biblische Bilderverbot auch als medienethischen Vorgriff auf die digitale Moderne verstehen. Mit KI-Bildern erreichen wir einen Punkt, an dem das Bilderverbot nicht nur theologisch, sondern erkenntnistheoretisch und medienethisch Sinn ergibt: Wer sich auf Bilder verlässt, kann leichter einer Illusion erliegen, als es sich naive Mediennutzer aller Epochen vorstellen konnten.
Das Merkel-Selfie von 2015 markiert rückblickend vielleicht eine Zeitenwende: Es war vielleicht eines der letzten analogen „Wahrheitsbilder“ in einer Welt, die noch an die Authentität des Fotografischen glaubte. Heute wissen wir, dass Bilder nur selten objektiv und neutral sind. In einer Epoche, in der KI jede Szene nach Belieben erzeugen kann, wird die alte Weisheit neu relevant: Prüfe alles – und behalte das Beste.
Das letzte Wahrheitsbild? Merkels Selfie als Symptom der politischen Verrohung
